Einsatzfahrt und Strafbarkeit nach § 315c StGB
Können Sonderrechtsfahrer wie Polizeibeamte, Notärzte, Feuerwehr oder Rettungspersonal wegen einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB angezeigt werden, wenn sie mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs sind?
Inhalt
- Sachverhalt aus der Presse
- Rechtsgrundlage für die Einsatzfahrt
- Freie Bahn schaffen
- Ordnungswidrigkeit durch den Einsatzfahrer
- Straftat nach § 315c StGB
- Fazit
1. Sachverhalt aus der Presse zusammengefasst
Autofahrer muss „scharf bremsen und ausweichen“
Ein Arzt aus Bayern war im April 2014 unterwegs, um ein zweijähriges Mädchen vor dem Erstickungtod zu retten. Während der Einsatzfahrt überholte der Arzt mit einer Geschwindigkeit von 85 km/h mehrere Pkw. Ein Verkehrsteilnehmer beschuldigt den Notarzt, dass er wegen ihm scharf bremsen und ausweichen musste. Dies wurde durch einen Zeugen bestätigt. Der Anwalt des Arztes äußerte sich dahingehend, dass der Streckenabschnitt auf einer Strecke von über 600 Meter gut einsehbar war und kein anderer zu Schaden kam.
Dem Arzt wurde vorgeworfen, dass er eine Straßenverkehrsgefährdung begangen hätte. Dem Strafbefehl könne man entnehmen, dass er sich als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges erwiesen hätte.
Der Leitende Oberstaatsanwalt rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Hinweis, dass Notrechte überschritten worden seien.
Artikel:
www.sueddeutsche.de
www.autobild.de
2. Rechtsgrundlage für die Einsatzfahrt
Zunächst muss auf die einschlägigen Vorschriften der StVO hingewiesen werden.
Dies sind die §§ 35 und 38 StVO, die wir bereits in Teil 1 und Teil 2 dieser Beitragsreihe behandelt haben:
Nachfolgend die aufgeführten Gesetzestexte mit Erläuterung.
Jeder, der ein Rettungsfahrzeug fährt, wie der Notarzt, ist von den Vorschriften der StVO befreit, da höchste Eile geboten ist, um das Leben des zweijährigen Mädchens zu retten.
Somit ist es gerechtfertigt trotz Gegenverkehr zu überholen.
Höchste Eile ist immer dann geboten, wenn die konkrete Situation begründeten Anlass zu der Befürchtung gibt, ohne diese Eile werde ein Schaden für das genannte Rechtsgut eintreten oder vergrößert.
Wenn man diese Definition auf den Fall überträgt, bedeutet dies, dass wenn man langsamer fährt und die Vorschriften der StVO beachtet, das Mädchen evtl. erstickt wäre.
Somit war der Arzt berechtigt Sondersignale einzusetzen.
3. Freie Bahn schaffen
Für den Fall des Notarztes bedeutet dies, dass der Entgegenkommende den Weg freizumachen hat. Dies kann geschehen indem man nur abbremst, oder abbremst und zur Seite fährt.
Kommt der Gegenverkehr dieser Anordnung nicht nach, begeht der Fahrer eine Ordnungswidrigkeit nach § 38 Absatz 2 StVO, da er einem Einsatzfahrzeug mit eingeschaltetem blauen Blinklicht und Einsatzhorn nicht sofort freie Bahn geschaffen hat. Dies wird mit einem Verwarnungsgeld von 20 Euro geahndet.
4. Ordnungswidrigkeit durch den Einsatzfahrer
Der Gesetzgeber nimmt die Einsatzfahrer mit in die Pflicht und hat ihm Grenzen auferlegt. Diese sind im § 35 Absatz 8 verankert.
Was bedeutet dies?
Vom Sonderrechtsfahrer wird eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, Interessen- und Verhältnismäßigkeitsabwägung gefordert.
Das heißt auf diesen Fall bezogen, dass man den entgegenkommenden Pkw-Fahrer höchstens behindern oder belästigen darf, aber nie gefährden oder schädigen.
Nehmen wir an, dass es laut den Pressemeldungen zu einer Gefährdung gem. § 1 StVO kam, da der Geschädigte eine Ausweichbewegung mit gleichzeitiger Vollbremsung durchführen musste. Dies ist verboten und stellt einen Verstoß dar.
Für diesen Verstoß muss der Sonderrechtsfahrer, da er laut Bußgeldkatalog das Sonderrecht nicht mit der gebührenden Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeübt hat, 25 Euro Verwarnungsgeld entrichten und bekommt keine Punkte in Flensburg.
Voraussetzung ist aber, dass die Einsatzfahrt gerechtfertigt war; dies war im Fall des Notarztes gegeben.
5. Straftat nach § 315c StGB
– Meinung des Verfassers –
Aus der Presse konnten wir entnehmen, dass der Arzt wegen eines Vergehens nach § 315c StGB angezeigt wurde. Welche Bedeutung hat diese Vorschrift?
Der § 315c StGB wendet sich ausschließlich gegen vorschriftswidriges Verhalten von Verkehrsteilnehmern im öffentlichen Verkehrsraum. Es werden schwere Verletzungen der Verhaltensregeln im Straßenverkehr geahndet. Insbesondere werden sieben abschließend bestimmte Verstöße unter weiteren Voraussetzungen als Vergehen bestraft.
(1) Wer im Straßenverkehr
1. ein Fahrzeug führt, obwohl er […]
2. grob verkehrswidrig und rücksichtslos […]
b) falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch fährt, und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.§ 315c StGB
Im Falle des Notarztes käme ein Verstoß nach Absatz 1 Nummer 2 b in Betracht, da er sich bei Überholvorgängen falsch verhalten hat. Im vorliegenden Fall überholte er, obwohl Gegenverkehr erkennbar war, was nach § 5 StVO verboten ist. Das falsche Überholen stellt zunächst nur eine Ordnungswidrigkeit dar.
Damit eine Straftat vorliegt, müssen zu dem falschen Überholen (konkrete Gefährdung des Entgegenkommenden) jedoch weitere Verfehlungen hinzutreten. Der Fahrer muss grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt haben.
Es handelt sich um zwei selbständige Tatbestandsmerkmale. Während die grobe Verkehrswidrigkeit nach objektiven Kriterien zu beurteilen ist, enthält die Rücksichtslosigkeit ein subjektives Element. Beide Merkmale müssen verwirklicht sein.
5.1 Grobe Verkehrswidrigkeit
Grob verkehrswidrig ist ein besonders schwerer Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift. Wer eine, der in dieser Norm aufgezählten Fahrfehler begeht (Überholen trotz Gegenverkehr), verstößt in aller Regel schon in grober Weise gegen die Verkehrsregeln. Von der groben Verkehrswidrigkeit kann ausgegangen werden, da man normalerweise nicht überholt, wenn Gegenverkehr herrscht und es zu einem Zusammenstoß kommen könnte.
5.2 Rücksichtslosigkeit
Des Weiteren muss er auch rücksichtslos handeln. Man will nur „extrem verwerfliche Verstöße“ bzw. „besonders schwere Verkehrsverstöße“ ahnden.
Wer sich im Straßenverkehr aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit von vornherein keine Bedenken gegen sein Fahrverhalten aufkommen lässt und den Erfolg (Gefährdung oder Schädigung) in Kauf nimmt, handelt rücksichtslos.
Der Notarzt hat mit über 5000 Einsätzen ohne Unfall bewiesen, dass er ein erfahrener Sonderrechtsfahrer ist. Er fährt seit 23 Jahren unfallfrei.
In diesem speziellen Fall ist er auf einer über 600 m einsehbaren Strecke mit ca. 85 km/h unterwegs, um nicht zu vergessen, ein Menschenleben zu retten.
Handelte dieser Notarzt rücksichtslos?
Gegenüber dem Bayerischen Rundfunk gab der Notarzt an:
An dem Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit scheitert meiner Ansicht nach der § 315c StGB.
Man kann dem Notarzt nicht unterstellen, dass er sich aus eigensüchtigen Gründen bewusst über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt hat und einen verkehrswidrigen Erfolg billigend in Kauf nahm. Aus seiner Sicht gesehen, ging er vermutlich davon aus, dass dem Gegenverkehr bei einer übersichtlichen Strecke von 600 m und gefahrenen 85 km/h (23,6 m/Sek.) noch genügend Zeit verblieb, um auf die Sondersignale zu reagieren.
Somit muss der Gegenverkehr, wie es im § 38 Absatz 2 StVO gefordert wird, dem Notarzt freie Bahn schaffen, indem man z.B. zur Seite fährt oder abbremst und anhält.
Weg-Zeit-Berechnung
Fährt der Entgegenkommende die erlaubten 100 km/h, legt dieser ca. 27,7 m/Sek. zurück.
Da bleiben dem Entgegenkommenden bei einer freien Strecke von 600 m etwas mehr als 11 Sekunden, um auf den Notarzt zu reagieren und z.B. anzuhalten oder rechts ranzufahren, bevor sich beide Fahrzeuge treffen.
6. Fazit
Bei den angegebenen Geschwindigkeiten kann es von den zur Verfügung stehenden Reaktionszeiten normalerweise zu keiner Gefährdung kommen.
Würde der Entgegenkommende in einem anders gelagerten Fall gefährdet, da er eine Notbremsung einleiten musste, begeht der Notarzt eine Ordnungswidrigkeit nach § 35 Absatz 8 StVO und keine Straßenverkehrsgefährdung, da das Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit nicht gegeben ist.
Die Generalstaatsanwaltschaft München reagierte am 09.02.2015 auf den Strafbefehl und nahm diesen nach den Einlassungen des Notarztes zurück, da keine Verurteilung wegen Straßenverkehrsgefährdung zu erwarten sei.